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erste Prosa

Mein Lebenslauf in Bewegung oder auch nicht

Was halten Sie davon?
Schließlich heißt es Lebenslauf.
Zuerst kommt die Zeit der Rollerstürze. Ich hatte gelernt, zu fahren, aber nicht, wie man bremst – wirklich! Später, scheint mir, war es eher umgekehrt. Damals jedenfalls, sobald ein Hindernis auftauchte, sprang ich ab vom Roller – und schon lag ich auf dem Pflaster. Ständig aufgeschürfte Knie. Kennen Sie die Lust, den Schorf abzupulen, um dann den Fingernagel in die juckende Heilhaut zu kerben – mit exakt dosiertem Schmerz?

Dann die Zeit relativer Eleganz. Wie ich den Roller mit der Routine eines Busfahrers führe – mein erster Berufswunsch! Wie ich ihn in kalkuliertem Wagnis um die Kurve in unsere Hofeinfahrt ziehe, beide Hände am rechten Lenkergriff, den Körper weit hinausgelehnt! Schade, dass Sie nicht dabei waren! Es war übrigens niemand dabei. Ich war selig in meiner Welt. So dass alles, was später kam, das, was man das eigentliche Leben nennt, mir zuweilen wie ein einziges Herausgerissenwerden aus meiner Welt erschien – aus einem Paradies.

Das begann mit der Pubertät wie mit einem Paukenschlag, der zusammen fiel mit dem Tod von Vater und Großvater. Ich war gelähmt, konnte nicht reagieren. Aber um Winnetou habe ich geweint. Ich wachse und stehe still. Meine Freunde begrüße ich mit einem kaum wahrnehmbaren Heben der Hand. So wird es Sie nicht überraschen, dass Frauen auf mich zugehen mussten, obwohl ich vor Sehnsucht nach Berührung schier platzte. Erlauben Sie, dass ich mich kurz fasse: Ich habe das Paradies wiedergefunden, nicht sofort. Und irgendwann habe ich es verraten, ohne es gleich zu merken. Verraten an wen – oder was?
Sie ahnen es schon: Ich gestattete der Sorge den Einzug. Meine Frau versuchte, mich auf andere Gedanken zu bringen: Hin und wieder schnappt sie mich und legt mit mir laut singend eine flotte Polka aufs Parkett – soweit das Wohnzimmer reicht; doch lasse ich mich nur schwer bewegen. Die Jahrzehnte der Sorge um Familie und Beruf werden zu einer Zeit, in der ich mich in meinen Impulsen eher gebremst fühle. Manches Wochenende wandere ich mich frei in den Arnsberger Wäldern, mit leichtem Gepäck, höchstens ein Buch, Hesse. Nach Stunden werden meine Schritte leicht; ringsum nehme ich jede Bewegung wahr – wie ein Jäger – oder ein Wild, das hierher gehört. Ansonsten geht meine Bewegung in die Gedichte, die ich schreibe, und – mehr noch – in meine Bilder: Die an sich recht starren Linolschnitte erwischen Momente, von denen aus man in der Zeit vor und zurück spazieren kann – sie erzählen Geschichten. Haben Sie meine Ausstellung gesehen? Waren Sie bewegt?

Überhaupt, das hätte ich fast vergessen: meine Freude an der Bewegung Anderer, allen voran meiner Kinder. Genauer: meine Freude über ihre Freude. Ist das nicht die Schule der Liebe? Wie meine dreijährige Tochter ein Osterei entdeckt – und ihr ganzer kleiner Körper fast waagerecht darauf zu schießt – Glück für uns beide! Ich weiß nicht, wann es angefangen hat, dass ich mich so hölzern bewege. Wann haben Sie es bemerkt? Oft gehe ich „wie gestoßen“ (Diese Beschreibung habe ich von Walter Kempowski geklaut, besser kann ich es nicht ausdrücken.).

Was würden Sie dazu sagen, wenn ich mich zu einem Tanzkurs anmeldete? Mutig? Oder eine Zumutung? Seien Sie ehrlich! Neulich habe ich schon mal in einer Tanzschule vorbeigeschaut. Die Atmosphäre war –
irgendwie abgestanden. Ich weiß noch nicht.

Auf der Rückfahrt im Bus sitze ich ganz vorne rechts, schräg hinter dem Fahrer. Gedankenverloren folge ich seinen runden Bewegungen.